Um sich der Kunst des georgischen Künstlers Rocko Iremashvili zu nähern, darf man das besondere – für Mitteleuropäer fremde – Umfeld nicht außer Acht lassen. Georgien ist Schnittstelle zwischen Eurasien und Transkaukasien, ist eine alte Hochkultur mit eigenen Schriftzeichen, eigenem Alphabet und eigener, zur südkaukasischen Sprachfamilie gehörenden Sprache. Die Schriftzeichen ähneln den persischen. Geprägt vom orthodoxen Christentum und mittelalterlichen, georgischen Ikonen ist die Bildsprache, zusammengesetzt aus Abbildung und Text, eine andere als im bildergestürmten Protestantismus der norddeutschen Tiefebene. Deshalb hat sich in Georgien das Selbstverständnis der Textbilder durch die Ikonographie bewahrt und ist für Rocko Iremashvili ein probates Stilmittel.

Durch seine teilweise in deutscher Sprache eingefügten Schriften vergisst der Betrachter leicht, dass Rocko Iremashvili ein Wanderer zwischen den Welten ist. Mit deutschen Wurzeln ist er doch Georgier, lebt und arbeitet in Tbilisi (Tiflis, Hauptstadt Georgiens). Rocko Iremashvili gehört zu den modernen Vertretern der Hybrid-Identität mit allen dazugehörigen Facetten. Er fühlt sich mehreren kulturellen Räumen gleichermaßen zugehörig. Seine Texte werden nicht illustriert, sondern sind Teil des Bildes, erklärend, geben Hinweise auf Interpretationsmöglichkeiten, verschlüsseln und erhellen die Bildbetrachtung gleichermaßen. So wird die Schrift unverzichtbarer Teil des Bildes. Sie gibt eine neue Interpretationsebene frei, ohne das Bild einzuschränken. Sie steht nicht allein, sondern ist Teil eines komplexen Ganzen.

Der Künstler Rocko Iremashvili ist sehr vielseitig, mit einem schier unerschöpflichen Potenzial. Neben der Malerei, die immer auch ein zeichnerisches Element hat und den derzeitigen Schwerpunkt bildet, beschäftigt er sich zunehmend mit Video-Arbeiten und Installationen, aber auch mit Skulpturen. Überwiegend geht es um narrative Elemente, eher selten sind die Ausflüge in die Abstraktion. Vor gut einem Jahr stellte Rocko Iremashvili im Rahmen der Ausstellung „Moon Museum“ mit Richard Serra und On Kawara, zwei bedeutenden Künstlern der Gegenwart, in der National Gallery des Georgian National Museums, Tbilisi, aus. Dies führte zu einem weiteren internationalen Interesse an seinem Werk.

Rocko Iremashvili ist ein genau beobachtender Künstler, der Stellung bezieht und das Gesehene kritisch hinterfragt und umsetzt. So war er als 16-Jähriger Zeitzeuge eines Attentates auf Eduard Schewardnadse, dem damaligen Präsidenten Georgiens. Dieser überlebte das Attentat und ließ sich schwer gezeichnet in einem Unterhemd ablichten und das Foto um die Welt schicken. Dieses Foto wurde 15 Jahre später zur Inspiration für das Gemälde „Vaters Bildnis“, in dem der Text „NO ACT OF TERRORISM!!!“ („kein Terrorakt!!!“) erscheint, und in dem der Vater in einem Unterhemd ähnlich derangiert dargestellt wird. Das Bild ist ohne diesen Kontext schwer zu interpretieren – und mit dem geschichtlichen Hintergrund bekommt es eine andere, politische Dimension. Uns ist dieses Unterhemd nicht ins kollektive Gedächtnis gebrannt, gleichwohl haben wir ähnliche Bilder der Gewalt als Gesellschaft in der Erinnerung, denken wir an den „deutschen Herbst“. So darf bei aller Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Zuvorkommenheit in seiner Person bei Rocko Iremashvili nicht verkannt werden, dass sein Georgien – und damit auch er selber – Gewalt gesehen hat, auch wenn die Rosenrevolution von 2003 als erste der gewaltfreien Revolutionen in die Geschichte der ehemaligen Sowjetrepubliken einging.

Vor ein paar Jahren beschäftigte Rocko Iremashvili sich mit dem Eingesperrtsein und der Platzangst. Er schreibt dazu:

Nach Hause zurückgekehrt, musste ich mich mit der bekannten Umgebung wieder vertraut machen, die jetzt furchtbar klein erschien und mich einschnürte, als wäre ich in einem Aufzug oder trüge zwei Größen kleinere Kleidung.
Diese Stimmung hat mich inspiriert zu der Idee des Projektes "Klaustrophobie", die Gegenstand meiner Arbeit in der vergangenen Zeit wurde. Der Arbeitsprozess führte mich zu neuen Erkenntnissen (neu für mich) – "ein Vogel ist nicht wirklich frei, nur weil er nach der Befreiung singt, denn er kann in einem extrem engen Käfig singen". Es ist die innere Freiheit, die auch während des Eingesperrtseins erreicht werden kann.
Daher ist dieses Projekt nicht nur der Protest in einem geschlossenen Raum, sondern es ermöglicht auch die Flucht daraus.
Eine unbegreiflich ästhetische Fassade, persönliche Bindungen oder die Schwierigkeiten, die „einfache Leute“ überwinden müssen, um ins Ausland zu reisen, lassen den Lebensraum als Gefängnis erscheinen, und diese Vorstellung wird durch den Staatsterror und die Medien verstärkt. Unter solchen Umständen ist es wirklich schwer, seine innere Freiheit zu erreichen und zu halten ...

Aus dieser Zeit stammt das Bild „Klaustrophobia“, beklemmend, verstörend, schwer zu ertragen ... Geprägt von den Gräueltaten des 2. Weltkrieges ist für den europäischen – insbesondere den deutschen – Betrachter sofort eine Assoziation zu den Leichenbergen, die bei der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten der Öffentlichkeit präsentiert wurden, gegeben. Offensichtlich tote, ausgemergelte Körper liegen würdelos wie Schlachtkörper abgelegt auf einem Haufen. Dies löst beim Betrachter vielfältige Beklemmungen aus – ist aber im Kontext des „Freiseins“ unumgänglich. „Freisein“ ist nicht nur ein physischer Zustand, sondern auch ein psychischer. Fest verbunden mit Begriffen wie „Menschenwürde“.

Rocko Iremashvili geht aber nicht nur mit seinen Protagonisten und den Betrachtern, sondern auch mit sich selbst schonungslos um. So zeigen seine Selbstbildnisse keinen strahlenden Helden – vielmehr gibt die Verhüllung des Kopfes (Gedanken an Entführung und Exekution sind sofort da) den Blick auf einen „Wohlstandsbauch“ frei. Hängende Schultern zeugen von Resignation – aber: die mit einem anderen Malgrund gestalteten Fäuste lassen einen Widerstand spüren. Dieses Stilmittel (Karton mit Leinwand zu verbinden) wendet der Künstler des Öfteren an. Stets werden die wichtigen „Kleinigkeiten“ mit dem nicht so wertvollen Material – anscheinend paradoxerweise – hervorgehoben. Im zweiten gezeigten Selbstbildnis ist der Dargestellte nur fragmentarisch zu sehen. Wieder sind es die Hände, die eine besondere Rolle spielen, ergänzt durch den Kopf wird vor unserem Auge eine gesamte Person daraus. Ob diese Person klein und dick oder groß und schlank wird, hängt von der Manipulation der Hängung ab. So liefert sich der Künstler, wenn auch nicht so offenbar, seinem Gegenüber aus.        

Nur sehr selten verzichtet Rocko Iremashvili auf Titel. Viel zu sehr liebt er die Sprache und ihre ergänzenden Ausdrucksmöglichkeiten. Das vierteilige Bild „Ohne Titel“ ist eine solche Ausnahme. In dieser Arbeit übernimmt Schrift – und somit Sprache – eine besonders starke, weil heftig überraschende Rolle. Das in sich zerrissen dargestellte Paar mittleren Alters quält sich auf unterschiedliche Art. Versucht der Mann eine Fischdose mit den Zähnen zu öffnen, versucht sich die Frau mit Lockenwicklern zu verschönern. Ob beides gelingt, sei dahingestellt. Und dann schleicht sich so ganz langsam ein bitterböser Satz ein: „Es ist nicht korrekt, den blinden Leuten die Geschichte von der Schönheit des Regenbogens zu erzählen.“

Die Frauenbilder lassen Anmutungen von sexueller Gewalt anklingen. In „I’m not a Princess, I‘m a fucking Queen“ scheint die Protagonistin sehr offensiv mit ihrer Sexualität umzugehen. Frech-rotzig lümmelt sie sich in einem Stuhl und lässt den Blick des Betrachters unter den Rock auf ihr Höschen zu. Provozierend wird das Bein gestreckt. Zur Verdeutlichung wird ihr die (Karton-)Krone aufgesetzt. Als Prinzessin wäre sie Opfer, als Queen bestimmt sie die Handlung. Wenn man dann bedenkt, dass Georgien im Vergleich zu Deutschland sehr arm ist und versucht, auf den Tourismus zu setzen und mit seiner Schwarzmeer-Küste wunderbare Landschaften zur Verfügung hat, ist der Gedanke an Prostitution für den Lebensunterhalt nicht fern. „Did you ...?“ stellt eher die Frage „Wer tat was oder auch nicht?“. Auch hier kommt der Gedanke nach körperlicher oder sexueller Gewalt auf, da eine Sandale fehlt, die Haltung eher verschlossen ist. Oder wird unser Blick durch die Frage im Bild manipuliert? Geschickt arbeitet Rocko Iremashvili mit diesen Attributen. In „Barfuß“ zeigt sich eine junge Frau eher lasziv-wartend. Der Titel wird erst durch die auf Karton dargestellten Details der Füße sichtbar.

Der Künstler Rocko Iremashvili zeigt in seinen Bildern nicht nur die Härte des Lebens. Es gibt durchaus zarte und poetische Aussagen. Bei der „Geburt“ ist alles für die Kinder und den Betrachter noch offen. Ein Kind ist uns geboren – verkündet die Weihnachtsbotschaft. Dass man in der Welt Vertrauen haben und für die Welt hoffen darf, ist der Philosophin Hannah Arendt nirgends knapper und schöner ausgedrückt. Damit hat sie sich erstmals von der Philosophie ihrer Vordenker abgewandt und einen Paradigmenwechsel weg von der Todesphilosophie – hin zur Philosophie der Gebürtlichkeit entwickelt. Sie stellt darin der Geworfenheit Heideggers die Spontaneität der Freiheit entgegen. Jede Geburt ist ein Anfang, der freies Handeln ermöglicht. Somit wohnt ihr die Freiheit des Anfangs inne. Daher ergibt sich die reale Frage: Werden die Kinder – ob Junge oder Mädchen ist nicht zu erkennen – frei sein? Sie sind letztlich unsere Hoffnung. Aber schon jetzt ist deutlich, dass sie in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. Teils zugeneigt, teils abgewandt schweben sie förmlich im Raum. Ob sie bereits die Empfindungen haben, dass sie in ihrer Haut eingesperrt sind, bleibt zu vermuten. Gesicherter jedoch ist, dass sich die Kinder bald schon an Fingerspielen erfreuen werden.

Von der in vier Bildern konzipierten Serie „Spielen mit Fingern“ ist die Hälfte nicht mehr im Besitz des Künstlers. Dort zeigten die Hände eher Waffen, die auf den Betrachter oder auf sich selbst gerichtet waren. Die beiden eher poetischen Bilder können wir in dieser Ausstellung sehen. Auch dies sagt etwas über die Gesellschaft und ihre Vorlieben aus. In einem der Bilder erscheint scherenschnittartig ein Wolf, paradoxerweise vor einem bewölkten Himmel mit Baumgruppe. Zunächst fällt diese stilistische Paradoxie gar nicht auf. Zu vertraut ist uns die Geste. Das andere Bild zeigt die Hände zu Flügeln geformt vor hohen Bergen. Was uns wie die Alpen erscheint, ist vielmehr der Kaukasus. Aber auch den möchte man manchmal überwinden. Nur bleibt das Spiel mit den Fingern eine Fiktion beispielsweise vom Fliegen – die Sehnsucht nach Freiheit. Nicht nur im realen, sondern auch im übertragenen Sinne.

So ist die „Flucht vorm Selbst“ keineswegs gelungen, wenn der Protagonist die Mauer überwindet. Das Bild suggeriert einen leichten Weg: springen – und die Freiheit ist da. Was nützt aber eine überwindbare Mauer, was nützen offene Handschellen, wenn die Flucht, wie der Titel sagt, vor dem Selbst erfolgen soll? Es bleibt der gehetzte Blick des Flüchtigen, der aus der Rolle des „tragischen Helden“ nicht hinaus kann. Der Verweis auf diese tragische Figur  findet sich explizit in den Textelementen des Bildes. Die Liste der tragischen Helden ist lang: Sie sind intelligent, leidenschaftlich und darauf bedacht, ihr Schicksal zu wandeln – entkommen können sie ihm jedoch nicht.

In der Serie „Duett“ – eigentlich ein zweistimmiger musikalischer Vortrag – werden Paare, beziehungsweise je zwei Personen in mannigfaltigen Situationen dargestellt. Manche können nicht voneinander lassen, da sie fest miteinander verbunden sind, manche bemerken ihre Verstrickungen nicht. Es fehlen die romantischen, liebevoll oder auch nur kultiviert miteinander umgehenden Paare. Dieser Spiegel sei uns Mahnung.

 

Sabrina Buchholz