Herzlich Willkommen zur Eröffnung der Ausstellung „Still-Stand“ in der Galerie per-seh.Was erwartet Sie hier heute? Wie dem vollständigen Titel der Ausstellung sowie der Vorankündigung zu entnehmen sind, zwei Künstler und ihre verschiedenen Kunstwerke – unterschiedlich in ihrem Medium und ihrer Herangehensweise. Eine Eröffnungsrede, welche sich weniger als Wegweiser und mehr als Wegbegleiter versteht. Und obwohl Zwei und Eins summarisch Drei ergeben, hoffe ich, dass heute weitaus mehr Wege beschritten werden, eine Vielzahl von Gesprächen über und vor allem mit dem Kunstwerk entstehen. Wie das gehen soll, fragen Sie sich? Der Schlüssel dazu sind Sie selbst. Keine Sorge: „Don’t Panic!“ prangt bezeichnenderweise in großen, freundlichen Buchstaben auf dem Buch im Buch von Douglas Adams, und auch die Geschichte darin lehrt uns, dass nicht alle Pferde wild gemacht werden müssen, solange der Ausgang ungewiss ist. Daher immer der Reihe nach, eins nach dem anderen. Beginnen wollen wir nämlich mit einer traditionellen Werkbetrachtung.Die Skulpturen von Winni Schaak bestechen durch ihre einfach wirkenden, kubistischen Körper, welche zugleich sehr komplex erscheinen. Handelt es sich um Körper oder doch um malerische Flächen, sind sie lebendig oder ausgewogen, schwer oder leicht, klar durchschaubar oder voller Spannung? Durch die sensiblen Neigungen und Wölbungen irritieren die Schweißkonstruktionen aus Cortenstahl und wecken teilweise die Assoziation an Gebäude. Umso verwirrender werden die minimalistischen Arbeiten im Angesicht ihrer Titel. IrriTatta. Aber auch andere Titel wie „Schneid‘ger Kopfkarton“ zeugen von Spaß an der Sprache, vom Fabulieren und Experimentieren. Besonders deutlich kommt bei solchen Neologismen der Wortwitz zum Tragen. Sie haben Witz, und genau wie Personen, denen dieses Attribut zugeschrieben wird, versprühen die Arbeiten von Winni Schaak einen scharfsinnigen Geist voller Esprit. Diese amüsanten Sprachspiele, welche Sie im Übrigen bei der Eröffnung des Zinnobers hier in der Galerie selber erleben können, erinnern an dadaistische Lautgedichte.„Dada ist ohne Sinn wie die Natur. [...] Dada ist für den unbegrenzten Sinn und die begrenzten Mittel. Das Leben ist für den Dadaisten der Sinn der Kunst.“, umriss Hans Arp die Absichten des Dadaismus. Die Akzeptanz des Zufälligen oder gar Sinnlosen ging Hand in Hand mit dem Bestreben nach einer gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Werteumwälzung einher. Winni Schaaks neue Ausdrucksformen untergraben durch die Befreiung von den Zwängen der Logik und Syntax ebenfalls die tradierten Formen und stiften neuen Sinn. Darüber hinaus kann bereits der Dadaismus als Vorreiter des Partizipatorischen betrachtet werden. Sicherlich nicht in konkret formulierten Handlungsanweisungen wie bei dem Aktionskünstler Allan Kaprow, aber in der subtilen Einladung zur Teilhabe an einer mehr, manchmal weniger erheiternden Provokation. Hierin liegt eine weitere Parallele zu Winni Schaaks künstlerischem Schaffen. Soll der „Schneid‘ge Kopfkarton“ tatsächlich auf den Kopf oder schneidet die schneidige Form meinen Verstand? Das Erlebnis dieser Werke wird durch eine partizipatorische Ebene erweitert, was unmittelbare Auswirkungen auf den Rezipienten hat. Schon bei einer etymologischen Betrachtung wird diese deutlich: participation, aus dem Lateinischen, setzt sich aus dem Substantiv pars, das heißt Teil, und dem Verb capere zusammen, im Deutschen unter anderem als ergreifen oder sich aneignen, nehmen übersetzt. Der Rezipient genießt die Teilhabe am Kunstwerk. Situationsangemessene Verhaltensmöglichkeiten liegen in Form von Hinweisen vor und bieten die Möglichkeiten und Regeln wie bspw. die zur Verwendung bereitliegenden Handschuhe der Teilnahme und Teilhabe. Wird die Skulptur als Instruktion realisiert, gemäß einer versteckten Gebrauchsanweisung,– Sie merken schon, an dieser Stelle kommen Sie ins Spiel –wird die Interaktion mit dem Gegenstand von zentraler Bedeutung. Dadurch verfügt sowohl das Kunstwerk als auch der Rezipient über einen Bildungswert. Der Rezipient trifft Entscheidungen und führt Bewegung und Handlung aus, so dass durch die Forderungen an den Betrachter vom Partizipienten gesprochen werden muss. Dabei kann Kollateralruhm erlangt werden. Noch wichtiger sind allerdings die Stellung und die Bedeutung des Körpers im Raum. Die Skulptur wird durch das Fenster, das sie bietet, erweitert und spiegelt die Fähigkeit, eine skulpturale Vorstellung zu entwickeln und letztlich eins zu werden mit den Skulpturen oder ein Teil der Skulpturen. Stillstand als Still und Stand. Ich und Sie stehen still vor der Skulptur und treten in einen Dialog mit dem Kunstwerk.Doch das höchste Axiom des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick, nämlich, dass man nicht nicht kommunizieren kann, gilt in gewisser Weise nicht nur für diese Werke, sondern ebenso für die von Dieter Ladewig. Auch hier gibt es durchdachte Titel, welche nicht einer willkürlichen Laune geschuldet sind. Die Titel geben eher Aufschluss über die Beschäftigung des Künstlers, denn den Gemälden liegen in der Realität verankerte Inspirationen zu Grunde: dies können gesehene Bilder, erlebte Begebenheiten oder Geschichten sein, an deren Visualisierung der Betrachter Teil hat. Deswegen können die Titel als Hinweis verstanden werden, welche die Gedanken des Betrachters lenken. Dieser Lenkung kann aus dem Weg gegangen werden, indem ein anderer Dialog mit dem Bild gesucht wird. Überlegen Sie sich einen eigenen Titel für das Bild, bevor sie sich dem vom Künstler gewählten zuwenden. Gibt es Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen? Worin liegt der Unterschied der beiden Titel? Die von Dieter Ladewig auf seine spezielle Art und Weise neu interpretierten Motive sind stimmungsvoll, zeugen aber auch von einer rastlosen Suche. Das Suchen nach dem Sinn der Dinge geht wiederum mit einer damit zum Ausdruck kommenden Beweglichkeit einher. Der Künstler selbst umschreibt es als Seelenchaos. Mit der vorhandenen Beweglichkeit bietet das Chaos die Möglichkeit zum Wandel und zur Entdeckung. Vor allem das Zweite ist dem Betrachter zugänglich und trägt zu einer produktiven Unruhe bei, welche zum Überdenken einlädt. Es wird deutlich, dass Chaos und Ordnung nah beieinander liegen. Neben das Chaos tritt das Ruhige, das Geordnete, das Leise. Dies äußert sich besonders stark an der Komposition und den Farben. Eine rhythmische Gliederung, zarte Linien und zarte Übergänge durch die Arbeit mit mehreren Schichten einerseits und der Eindruck von abgeschwächten, gedämpften, getrübten, pastellenen Farben andererseits, obwohl die Gemälde über ein weitaus reicheres Farbspektrum verfügen. Die zum Vorschein tretenden rechteckigen Flächen lassen manchmal einen Horizont erahnen oder erinnern hier und da an Personen. Ihnen allen ist der Eindruck einer Räumlichkeit gemein. Selbstverständlich handelt es sich um keine konventionellen Bildräumlichkeiten oder perspektivische Darstellungen, da die Farbe nicht mehr der Beschreibung der einzelnen Dinge dient. Zum Ausdruck kommt die Raumfülle, der Raumgehalt bzw. das Raumgefühl. Dabei bleibt offen, ob die Linien, an denen Raum ausgemacht wird, den Umriss eines Körpers bilden oder die verschattete Hülle eines Raumvolumens. Die einzelnen Linien verbinden sich zu plastisch-körperlichen Flächen, durch die das ganze Bild aufgebaut wird. Womit eine Verbindung zum Kubismus unterstellt werden könnte. In der Natur selbst gibt es keine Linien, so dass jede Linie bereits Abstraktion bedeutet. Abstraktion ist der Versuch, ganzheitliche Zusammenhänge der Wirklichkeit auf wesentliche Züge zu vereinfachen, um die Komplexität zu verringern. Sofern dies mit Form und Farbe geschieht, bedeutet das: einmal der Abbau der Gegenständlichkeit und zum anderen der damit verbundene Gewinn an Allgemeingültigkeit – nicht Allgemeinverständlichkeit. Oder sind die Flächen weitaus weniger kubisch zu lesen, sondern vielmehr als Rahmen und zwingen somit regelrecht zum genauen Betrachten der durch sie gerahmten Fragmente. Haben wir es hier vielleicht mit einem weiteren Hinweis zu tun? Sind Flächen und Räume das, was das Gehirn in den Gemälden findet, weil unser Wahrnehmungs­system uns daran hindert, unvoreingenommen wahrzunehmen? Die beim Sehen eintreffenden Lichtreize werden nämlich spontan interpretiert und im Gehirn unwillkürlich bekannten Schemata zugeordnet. Eine hilfreiche und notwendige Eigenschaft, um sich schnell in einem gewohnten Umfeld zu orientieren. Bei der Entdeckung von Neuem hilft diese Interpretationsleistung des Gehirns freilich wenig. Jedoch kann die eigene Wahrnehmung überlistet werden, so dass sich unbekannte Qualitäten von Formen, Materialien, Gegenständen oder Stoffen offenbaren. An dieser Stelle richte ich ein weiteres Mal meine Worte direkt an Sie: Gehen Sie mit ihrem eigenen Motivsucher auf Entdeckungsreise und unterlaufen Sie so die einfache Mustererkennung, indem Sie nach Bildausschnitten suchen, welche nicht gleich identifiziert werden können. Was zeichnet die Entdeckung aus? Wie wirken die entdeckten Formen? Damit können unmittelbare ästhetische Erfahrungssituationen angebahnt werden. Das erfordert zwar Mut zum Risiko, doch der Einsatz kann sich lohnen. Auf das Wagnis kann stolz zurückgeblickt werden. Am meisten entlohnt allerdings das ästhetische Erlebnis selbst. Wenn unter Wissensinhalten die vom Menschen geformten und verankerten ideellen Strukturen (ausgesprochene und unausgesprochene Übereinkünfte des menschlichen Zusammenlebens beginnend bei der Sprache über Normen bis hin zur Natur- und Selbstaneignung sowie Wissenschaft, Recht, Religion usw.) zu verstehen sind, an denen jeder teilhaben kann, ist Kunstwissen die Partizipation an Kunstwerken bzw. die Erfahrung von Atmosphäre, welche natura naturans und natura naturata eint. Die Teilhabe an Kunstwerken ist ein Wissen, welches einen freien Umgang, da ein Zu- als auch ein Abwenden möglich sind, erlaubt und eine entlastende Orientierung in der Wirklichkeit der affektiv-betroffenen Atmosphäre schenkt. Ein literarisches Beispiel liefert bspw. Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“, welches die Atmosphäre der Gesteinstatue Apollos und infolgedessen die Wirkung, die Betroffenheit des Betrachters beschreibt. Dieses Gedicht erscheint mir als angemessenes Schlusswort.  Rainer Maria Rilke „Archaischer Torso Apollos“ Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,darin die Augenäpfel reiften. Abersein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bugder Brust dich blenden, und im leisen Drehender Lenden könnte nicht ein Lächeln gehenzu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurzunter der Schultern durchsichtigem Sturzund flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändernaus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.  Vera MeierKunstvermittlerin