Exemplarisch in seinem Oeuvre ist das Werk Zwischen Himmel und Erde aus dem Jahr 2009.
Das 150 x 290 cm große Ölbild führt den Betrachter direkt in einen verzweifelten Kampf: zwei im Profil dargestellte, männliche Figuren ziehen mit aller Kraft an einem Seil in die jeweils entgegengesetzte Richtung. Die zwei links und rechts im Bild platzierten Figuren werden nur durch eine Glasscheibe getrennt, das Seil wiederum verbindet sie. Der links Platzierte ist völlig entkleidet und vereinnahmt zwei Drittel des Bildes und scheint durch seine dynamische, nach vorne schreitende Position die aktivere der zwei Gestalten zu sein. Sein Knie ruht auf einer Grasfläche, hinter ihm befindet sich ein gelber Sessel. Die zweite männliche Gestalt besetzt den rechten Teil des Bildes. Dieser ist mit einer schwarzen Hose und einem grünen Shirt bekleidet. Die Schuhe nehmen den Farbton des Oberteils wieder auf. Mit seinem linken Fuß durchdringt er die Scheibe, ohne sie zu zerstören, und stemmt sich gegen den Sessel. Er sitzt auf einem schwarz-weiß karierten Boden und neigt sich mit seinem stark nach hinten gebeugten Oberkörper auf die rechte Seite. Sein Blick ist nach oben gerichtet.
Die Gesichter beider Figuren sind verzerrt, gerötet und zeugen von großer Anstrengung. Wo genau sich diese zwei Figuren befinden, ist nicht auszumachen. Im Hintergrund erkennt man zwei sich horizontal erstreckende Flächen, die obere ist blau, die untere schwarz gehalten. Auf den ersten Blick meint man einen Horizont zu erkennen, doch schaut man genauer, entdeckt man die Naht, die diese beiden Flächen, ähnlich zweier notdürftig zusammengeflickter Stücken Stoff, zusammenhält. Assoziationen zu Zelten kommen auf.
Wie fügen sich diese komplexen Beobachtungen nun zusammen? Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die beiden Figuren dasselbe Antlitz haben. Es ist zu vermuten, dass es sich um dieselbe Person handelt, in der sich eine innere Zerrissenheit zu manifestieren scheint. Das eine Ich lehnt sich gegen das andere Ich auf. Doch lässt die Vielschichtigkeit in Rocko Iremashvilis Werk keine eindeutige Auslegung zu. Der Künstler gibt dem Betrachter die Möglichkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Dargestellten. Warum ist die eine Figur nackt, die andere hingegen bekleidet? Warum ist die Grenze zwischen diesen Welten so fragil, dass sie zerbrochen werden kann. Hat sich die Position des Individuums in eine bestimmte Richtung verlagert? Ist der innere Zusammenhalt verloren gegangen?
Handelt es sich überhaupt um zwei Welten? Oder spielt sich alles in einem Kosmos, unter einem Himmelszelt ab?
Das malerische Werk Rocko Iremashvilis hat immer wieder bewiesen, dass Symbolik ein wichtiges Element seiner Bilder ist. Hier macht er keine Ausnahme. Demzufolge könnte der Nackte dem Bekleideten hier als Symbol für Reinheit, Wahrheit und Unverstellbarkeit gegenüberstehen1; im Kampf – wie der Künstler selbst verrät – zwischen der materiellen und geistigen Welt.
Der Verzicht auf Kleidung kann auch als vollkommene Entblößung des Selbst gedeutet werden, als Entblößung seiner Gedanken. Der Künstler offeriert uns tiefe Einblicke in sein Seelenleben, in die Unordnung, die in seinem Kopf vorzuherrschen schein.
Fremdkörper
Auf eine gegenständliche Art und Weise führt der Künstler uns weiter ins Innere: Kunstharz-Köpfe, in deren Innerem deplatziert wirkende Fremdkörper sind. Objekte, die dort offensichtlich nichts zu suchen haben, sind in die Gehirngegend gepresst: Futter, Beleuchtung, eine Schlange.
Ob es sich hierbei um eine politisch-gesellschaftliche Äußerung oder einen persönlichen Konflikt handelt, mag man nur vermuten.
Im Gespräch öffnet sich der Künstler und weist darauf hin, ein Gefühl des Eingepferchtseins, eine Klaustrophobie empfunden zu haben, als er nach einem Auslandssemester in seine Heimat zurückkehrte. Er stellte sich plötzlich einer Enge entgegen, der er zu entfliehen versuchte. Kann man diese Empfindung in seinen Werken wiederfinden?
Freilich ist das Ergebnis düster, stark symbolisch und intensiv. Seine Werke seien jedoch nicht politisch, betont Iremashvili. Hierbei handele es sich vielmehr um ein allgegenwärtiges Gefühl, das Menschen überall treffen bzw. betreffen könne. So kann es hervorgerufen werden durch staatliche Maßnahmen, äußere Umstände oder persönliche Erlebnisse. Sicherlich ließe sich eine Spur seiner Herkunft – Iremashvili ist ein Mensch, der Krieg aus eigener Erfahrung kennt und Unglück erleben musste – in seinen Bildern finden. Jedoch verlassen seine Werke die biografische Ebene.
Er fordert den Betrachter nur dazu auf, in diese Bildräume einzutreten und sie zu durchzustreifen. Eine Aufgabe, die auf den ersten Blick leichter zu sein scheint, als es sich am Ende herausstellt. Meint man eine Richtung oder einen Sinn entdeckt zu haben, so häufen sich augenblicklich Dissonanzen und Widersprüche, die den Betrachter wieder in eine Orientierungslosigkeit entlassen. Der Blick verliert sich im Tumult der Requisiten und Symbole, Farben und Formen.
Gemischte Gefühle
Farben und Formen sind es auch, denen wir am jüngsten Punkt seiner künstlerischen Entwicklung begegnen. Diese Weiterentwicklung mag in Anbetracht seiner vorherigen Arbeiten für manche unerwartet kommen. Das Figürliche wird durch eine völlige Abstraktion ersetzt.
Auf weißem Grund vermischen sich verschiedene Farben zu einer inhomogenen Masse. Wie auf die Leinwand geschüttet scheinen sie sich von der Mitte des Bildes in die äußeren Partien zu verteilen.
Wasser sei die Thematik dieser neuen Arbeiten, so der Künstler: Wasser ist hier jedoch nicht als natürliches Element zu verstehen, sondern als formlose Kraft, die sich in unterschiedlichen Facetten zu zeigen vermag. So strömen die Gedanken wie Wasser in verschiedene Richtungen und nehmen wie Gefühle und Farben verschiedene Formen an, ein Prozess findet statt, die Ausgestaltung bleibt offen.
Lediglich die Farben geben dem Betrachter ein Raster für seine Empfindung vor. Mit der reinen Kraft der Farbe schafft der Künstler es, Stimmungen hervorzurufen, gewissermaßen eine Visualisierung von Gefühlen – seiner eigenen? – zu erzeugen. Umso schwieriger erweist es sich da, eine Richtung, einen Sinn oder eine Ordnung zu finden, da Farben bei jedem von uns verschiedene Assoziationen erwecken.
Ob man daraus schließen kann, dass es sich dabei um den Ursprung seiner tiefsten Gedanken, Ängste oder Zerrissenheit handelt, bleibt dem Betrachter überlassen.
Hiermit würde sich der Kreis zu Zwischen Himmel und Erde schließen. Am Ende seiner Betrachtung bleibt der Rezipient mit gemischten Gefühlen zurück.
Melissa Klinckwort, Kunsthistorikerin
1 Becker, Udo: Lexikon der Symbole, Freiburg, 1992. S. 202.
Denn die wahre Kunst ist es,
sich innerlich frei zu fühlen
trotz äußerlicher Unfreiheit.
Rocko Iremashvili