Fragmentarische Motive im Wechselspiel von Vertrautheit und Fremdartigkeit. Eine Materialität, die überrascht.
Seit 1985 arbeitet Lea Oetken an einer Serie, die einmal einhundert Werke umfassen soll. Mehr als achtzig sind es bisher. Der Begriff „Doppelbildplastik“ beschreibt anschaulich die mit Acrylfarbe auf Glastafeln geschaffenen Arbeiten. Die Wahl des Materials stammt noch aus der anfänglichen Auseinandersetzung mit der Autopsie, Mikroskopie und Präparation, so dass die Glasscheiben die Assoziation von Objektträgern wachrufen.
Zwei Seiten, die sich ergänzen, bereichern, aber auch widersprechen. Gemeinsam ist ihnen das Farbschema, welches von Weiß über Gelb und Orange bis hin zu Ocker und schwarz reicht. Darüber hinaus verfügen die Doppelbildplastiken meist über eine helle sowie über eine dunkle Seite und lassen somit die meistens nackten, androgynen Figuren ambivalent erscheinen. Das zweite Gesicht wird im geläufigen Sinn als eine Metapher der Vorahnung verstanden. Jedoch, was wäre, wenn nicht metaphorisch sondern psychologisch gedacht wird? Handelt es sich womöglich um die Kehrseite eines jeden Wesens, welches Pierre Baigorry in seinem gleichnamigen Lied das zweite Gesicht nennt? Etwas, was wir vergebens einschließen, da es letztlich durch jede Tür passt und immer wieder ausbricht? Die warmen Farben lösen daher nicht immer ein angenehmes Gefühl aus.
Oder gleichen diese lebensgroßen Figuren, welchen wir auf Augenhorizont begegnen, eher dem römischen Gott Janus? Bereits die altmesopotamische sowie ägyptische Kunst kennen zweigesichtige Wächter; ein hellenisches Pendant zu Janus existiert allerdings nicht. Er war der Gott der Türen und Tore und wurde häufig mit zwei Gesichtern dargestellt. Vor- und zurückschauen, öffnen und schließen, Ein- und Ausgang und damit verbunden der zitternd lächelnde Anfang angesichts eines Endes. Wachen die Gemütszustände widerspiegelnden Figuren mit doppeltem Blick über räumliche und zeitliche Durchgänge?
Die Entdeckung von neuartigen Materialien gerät jedoch in den Schatten bei der Betrachtung, wie Gesellschaft, Wissenschaftler und Künstler Werkstoffe umdenken und damit neu interpretieren und entdecken. Die Verwendung von Glas bei Lea Oetken, eines Jahrtausende alten Werkstoffs, geht mit der Veränderung dieses freundlichen, leichten sowie erklärbaren Materials einher. Glas verbirgt weniger als beispielsweise Holz, und es überrascht mit seinen Widersprüchen. Glas kann härter als Stahl sein und doch verschleißen, gar brechen. Neben diesem fragilen Moment der Zerstörung in Form von verstorbenen Figuren, welche in Glasurnen präsentiert werden, lässt uns die Künstlerin an der Lichtdurchlässigkeit teilhaben. Die beidseitig bemalten Glasflächen entziehen sich immer wieder dem Status der Abgeschlossenheit. Übermalen, wegkratzen, freilassen und weiterentwickeln – die Künstlerin reagiert damit auf die sie umgebenden Umstände, so dass vermeintlich vollendete Figuren der Veränderung unterliegen. Deckungs- beziehungsweise Durchlässigkeitsgrad hängen dabei von der Farbmenge, aber auch von der Pigmentdichte und vom Bindemittel sowie damit verbunden von der Reflektion des Lichtes ab. Das Wissen um die Transparenz ist elementar für die mehrschichtige Malerei, da erst das Zusammenwirken aller Schichten die erwünschte Wirkung liefert. Ein Farbergebnis, welches nicht als Einzelfarbe gemischt werden kann, sondern aus der Summe heraus zuletzt im Auge des Betrachters strahlt. Das Licht wird nicht an der obersten Fläche zurückgeworfen, sondern dringt durch die verschiedenen Farbschichten. Es wird durch mehrere Farbebenen gebrochen und unterscheidet sich je nach Standpunkt des Betrachters, welcher damit aktiv an dem Kunstwerk teilnimmt. Durch die Transparenz kommt es auch zur optischen Verbindung mit dem Hintergrund, welchen ebenfalls der Betrachter mit seinem Blickwinkel bestimmt. Hierhin und dorthin blickend. Zwei Seiten einer Medaille.
Vera Meier
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