Kann [also] die mythische Überlieferung – im vorliegenden Falle die der alten Grie­chen – unter heutigen Aspekten noch einmal in Malerei übersetzt werden? Das ist die zentrale Frage, die von den hier gezeigten Bildern Henri Deparades aufgeworfen wird. Will man diese Frage nicht gleich mit einem klaren Ja oder einem entschiedenen Nein beantworten, sie also nicht unbefragten Geschmacksurteilen überlassen, sollte man nach Gründen Ausschau halten, die für die Dignität eines Versuchs sprechen, die ewigen Konstellationen zwischenmenschlicher Verhältnisse, also die der Liebe und des Hasses, der Zuwendung und der Demütigung, des Kampfes und der Versöhnung, mit Hilfe von Farben und Formen neu vor die Augen der Betrachter zu rücken.

Henri Deparade, der insbesondere von der Argonautensage und der Orestie fasziniert ist, sich aber auch mit den um Troja kreisenden Sagen und mit der Ödipus-Gestalt beschäftigt hat, illustriert diese alten Stoffe nicht einfach, drapiert das mythische Per­sonal nicht mit neuen Klamotten, um es ein­mal etwas salopp zu formulieren. Viel­mehr holt er aus dem Uralten bildnerisch Situationen und Konflikte hervor, die uns immer noch etwas angehen können. Er sieht in Medea und Jason, in Agamemnon und Klytaimestra, in Odysseus und Kirke Arche­typen, in denen nach einem Wort von Ernst Bloch noch viel „Unausgearbeitetes“ um­geht, das es zur Erscheinung zu bringen gilt. Henri Deparade rückt seine klassischen Protagonisten, die schon so häufig geformt und gedeutet worden sind, mit sensiblem Gespür für ihre paradigmatischen Existenz- und Gefühlslagen neu ins Bild.

Der Maler tut das mit einem erregten Pin­sel­duktus, der die Profile und Körper seiner Figuren unruhig umspielt, sie aus der my­thi­schen Ferne gleichsam heraufruft in unsere Gegenwart. Heraufruft zu neuer Zeu­­gen­schaft, die uns etwas bedeuten kann, wenn wir uns hineinsehen in seit jeher bestehende und auch in der Gegen­wart andauernde Grund­konstellationen und Konflikte. Und indem wir uns über Farben und Formen hineinziehen lassen in das unabgegoltene mythische Geschehen, ge­winnen wir Sicht­weisen, die wohl fruchtbar zu machen sind für die Deutung unserer Gegenwart.

Es ist dabei nicht nur möglich, sondern ausgesprochen ratsam, dass jeder Be­trach­ter vor einem dieser Bilder zu seiner eigenen Auffassung, seiner eigenen Deutung kommt. Eine Verbindlichkeit, die für alle gilt, intendieren diese Gemälde nicht, sie lassen genügend Raum für unterschiedliche Sichtweisen und für das assoziative Spiel der Phantasie, machen gewissermaßen Vorschläge, die aufgegriffen, aber auch ver­­worfen werden können.

Gleichwohl wird einer völligen Willkür bei der visuellen Aneignung dieser Bilder doch entgegengearbeitet, und dabei kommt der Farbigkeit der Werke eine Schlüssel­funk­tion zu. Es ist natürlich keineswegs gleichgültig, ob eine mythologische Szene etwa in leuchtendes Rot getaucht ist oder überwiegend in Blautöne eingebettet wird. Ob ein bestimmtes Grün einem passenden Ocker korrespondiert, oder ob sich blaue Valeurs mit giftigen Tönen streiten, es sind allemal Seelenfarben, wie ich sie nennen möchte, die hier Leitfunktion haben, die deutliche Signale aussenden und eine enorme Dynamik ins Bildgeschehen bringen, heftige Reize evozieren und Stimmungen vielfältigster Art grundieren.

Wer diese Bilder also „lesen“ will, muss sich in besonderer Weise einlassen auf ihre Farbigkeit, muss ihren im Malvorgang ge­tilgten und dann teils doch wieder aufbrechenden Spuren folgen, den Über­schnei­dungen der Linien nachgehen und das prononcierte Herauszeichnen klassischer Pro­file erkennen. Ein so eingestimmter Be­trachter wird sich in den reichhaltigen Ar­beitsprozess hineinzuversetzen suchen, der bei der Entstehung dieser Bilder abgelaufen ist. Im insistierenden Nachvollzug der gestischen Malweise offenbart sich ihm dann, was die Körperhaltungen dieser mythologischen Gestalten ausdrücken, was ihre mitunter aufgerissenen Münder uns an Botschaften zuzurufen scheinen aus einer vorrationalen, sich eben in Bildern artikulierenden Welt. Sie ist in Wahrheit von unserer angeblich so aufgeklärten zeitlich gar nicht so weit entfernt, vielmehr wurzeln wir mit vielen Fasern unserer Existenz noch immer in ihr. Vom antiken Mythos zur Loveparade ist es nur ein verhältnismäßig kleiner Schritt, wenn man das Gewoge der Gestalten hier und dort auf die bestimmenden Grundzüge hin betrachtet.

 

Aus einer Rede von Peter Engel,

Hamburg 2008