Den Spuren der Natur entlang
Anhalten am Ort der Inspiration.
Wie findet eine Idee ihr Material:
Mit Substanzen experimentieren,
Farben ohne Farbe entstehen lassen,
Strukturen erkennen und zulassen,
die Sprache der Dinge neu aussprechen.
Knotenkreuze
Sechs abgeschnittene Strickstücke
lagen auf der Asphaltstraße,
eine Saat von Knotenkreuzen,
über die ich hinwegfuhr.
Ein Ungeduldiger
hatte die verknoteten Fesseln eines Paketes
auf allen sechs Seiten durchschnitten und einfach weggeworfen.
Ich stieg vom Rad, bückte mich und las die Strickstücke von der Straße auf.
Zu Hause buk ich sie zweimal in Ascheteig ein.
Einmal nahm ich sie wieder heraus,
um den Abdruck sichtbar zu machen,
und zum zweiten Mal buk ich sie wieder ein,
um den weißen Hanfstrick zu zeigen,
der aussagt, wie tief sich die Fessel in die Haut eindrückt
und wie sie aussieht.
Lichtzeichen der Karde
Die Karde ist eine Wildpflanze,
die hoch wie ein Mensch wächst,
und da sie überall bestachelt ist, fängt sie das Licht ein
und lässt es wie einen Strom von Haar zu Haar laufen,
bis die ganze Gestalt umglänzt ist.
Die Erscheinungen verdichten sich zu Evolutionsbildern.
Sie entsprechen der Gebärde der Pflanze ebenso,
wie sie der Gebärde eines Engels entsprechen könnten.
Die Zeichen sind aus dem Papierbrei herausgearbeitet.
Durch das Nichtvorhandensein von Material
erhalten sie ihre Transparenz
und werden zu Lichtzeichen.
Auf diese Weise geben sie das Beobachtete wieder.
Ich fand immer neue Gebärden,
die sich aus dem Formprinzip der Karde ergeben,
deren Evolutionsstufen ich beobachtet habe.
Die „Ansichten“ werden beherrscht von den Grundformen
Dreieck und Oval.
Die strenge V-Gebärde der Blätter wird ebenso zum Zeichen
wie die Kugelform des Blütenkopfes.
alle Texte von:
Sigrid Baumann-Senn